Ausgabe v. 06.02.2007

wohnzeit, Nr. 3/2007

»Ich erleb' das noch«, sagt Johannes Schulze, von 1967 bis 1990 Leipzigs stellvertretender Stadtarchitekt, heute 74-jähriger Ruheständler im Un­ruhe­stand, als solcher befasst mit dem Johanniskirchturm. Schulze engagiert sich in jenem Verein, der den Wieder­aufbau auf historischem Grund voran treibt: »Der Johannisplatz wurde in den letzten Jahren rekonstruiert, der Verkehr fließt wieder ideal. Wo der Turm stand, blieb freies Gelände. Mit dem Turm würde dem gesamten Ensemble mit dem dahinter liegenden Grassimuseum eine Vollendung ge­geben. Ein Campanile für Leipzig!«

Schulze ist in seiner Begeisterung fast nicht zu bremsen. Die Funktion des Platzes als Tor zur Ostvorstadt würde wieder hergestellt, der Turm wäre Blickpunkt aus Richtung des Augustusplatzes und hin zu ihm. Das Bauwerk würde an die kultur­histo­rische Relevanz dieses Areals und an die früheren Begräbnisplätze Bachs und Gellerts erinnern. Der hohe ästhetische Wert des barocken Bauwerks ist sowieso unumstritten. Es würde die gegenwärtige Stadtlandschaft bereichern. Ideeller Schwung ist vorhanden, Zustimmung der Stadt ebenso, allein es fehlt das Geld. Schulze und Co. gehen von Baukosten in Höhe von 300.000 Euro aus. Spenden müssen fließen.

Der Architekt hat Baugeschichte erlebt. Ende der 1950-er Jahre gehörte er zu den Projektanten des Opern­hauses. Ideal sei es gewesen, gleitend der Bauablauf, quasi an einem Tag gezeichnet und am anderen rea­li­siert. Schulze war bewusst im Osten geblieben, glaubte, hier liege die Zukunft Deutschlands, musste aber in vielen Jahren dann doch den »Irrtum seines Lebens« eingestehen. Einen ersten Knacks bekam der über­zeugte Sozialist wohl schon am 9. Mai 1963. Reichlich fünf Jahre vor der Vernichtung der Paulinerkirche wurde da nämlich der Johanniskirchturm gesprengt, obwohl dieser in den Jahren zuvor saniert worden war. »Der hohle Zahn wird plombiert« hieß es in der LVZ vom 16. März 1956 in einem Beitrag von Chefarchitekt Lucas: »Die Neugestaltung des Johanniskirchplatzes gehört nicht zu den dringlichsten Aufgaben in unserer Stadt. Der Turm darf aber nicht dem weiteren Verfall preisgegeben werden.«

Sieben Jahre später dachte man im Zuge der verordneten »Enttrümmerung« doch anders. »Die Sprengung des Turmes war der Auftakt zu einer Serie von Entsorgungsaktionen, zu denen die gesicherten Ruinen des Gewandhauses und des Bildermuseums gehörten sowie die totale Beseitigung des noch genutzten Augusteums und die völlig Auslöschung der intakten Universitätskirche«, stellt in der neuen Publikation »Der Johanniskirchturm in Leipzig« Autor Werner Marx fest.

Gegen die Zerstörung protestierten 20 junge Architekten, unter ihnen Johannes Schulze. Sie verfassten ein Schreiben und sandten es an die Stadtoberen. Schulze erinnert sich: »Zwei Tage zuvor kam es zu einer Aussprache beim stellvertretenden Oberbürgermeister Adolphs. Zum Abschluss sagte er: ›Merken Sie sich, die deutsche Geschichte beginnt erst 1945.‹ Ich wusste damit: Hier ging es nicht mehr um einen Barockturm, hier ging es um die Abrechnung mit der historischen Vergangenheit. Für die so genannten Genossen der ersten Stunde hatten vor allem sakral-kunsthistorische Bauten keinerlei Bedeutung.« Was fünf Jahre später mit der Sprengung der Universitätskirche ihren dramatischen Höhepunkt erreichen sollte. Johannes Schulze war da übrigens noch hilfloser.

Nun hat der Oldie doppelt Grund, positiv zu denken. Als der ehemalige Langstreckenläufer aus Hans Grodotzkis Zeiten im letzten Herbst zu einer alpinen Bergtour mit seinen Söhnen aufbrach, endete die für ihn mit einem dramatischen Absturz. Die Rettung ins Krankenhaus erfolgte per Hubschrauber. »Wer so etwas unbeschadet weg steckt, hat nicht mehr viel zu fürchten«, sagt Schulze heute und kann schon wieder lachen über jenes Foto, das ihn nach dem Vorfall verunstaltet wie ein Boxer in der zwölften Runde darstellte. Schulze zwischen Überlebensmut und gesundem Starrsinn: »Ich erleb' das noch, dass der Johanniskirchturm wieder steht«.